top of page

Herz vor Dogma: vertragen sich Religion und Homosexualität?

Aktualisiert: 26. Juli 2020

Nach dem Einkaufen wurde ich angespuckt. Ich ging mit meinem damaligen Freund durch Aldi und rief „Baby“, um ihn auf irgendetwas aufmerksam zu machen.

Das brachte uns die uneingeschränkte Aufmerksamkeit von zwei Männern, deren böse Blicke uns während des gesamten Einkaufs verfolgten. Ich ließ mich nicht einschüchtern und starrte zurück. Damon und ich waren grade über ein Jahr ein Paar und frisch zusammengezogen. Die Sommerluft schmeckte nach Freiheit, Freiheit die uns nicht jeder zugestehen wollte. Als wir Hand in Hand auf dem Weg nach Hause den Gehweg entlangschlenderten, fuhren die Aldi-Männer an uns vorbei und spuckten mich aus der Sicherheit ihres Fahrzeuges heraus an. Sie schmierten mir aus sicherer Entfernung ihre Verachtung, ihren Ekel, ihre vermeintliche Macht, ihre fragwürdige Überlegenheit, ihre eigene Unzufriedenheit, aber auch ihre Angst mit einer äußerst erniedrigenden Aktion auf die Jacke. Wir machten Beweis-Fotos und gingen zur Bergedorfer Polizei, am Bahnhof vorbei, wo wir sie mit ihrem Auto stehen sahen. Handys raus und schnell hin, um sie per Video festzuhalten. Zielstrebig eilten wir auf ihr Fahrzeug zu. Als wir in ihrem Blickfeld erschienen, verließen sie mit quietschenden Reifen den Parkplatz. Die „tapferen und starken“ Männer flüchteten aus Angst vor Konsequnzen.

Noch immer bestimmt Homophobie den Alltag. „Ich habe ja nichts gegen Schwule aber müssen die das hier machen?“ Trotz intensiver Aufklärung und gesetzlicher Veränderungen ist gesellschaftliche Akzeptanz und Gleichberechtigung noch ein fernes Ziel. Das wird auch in dem Artikel „Vom Auflösen und Finden der Menschlichkeit“- erschreckend deutlich. Manche verbreiten sogar das Gerücht Homo-, Bi-, oder Pansexualität sei nur ein Trend. Papst Franziskus nennt sie sogar eine „Mode“. Als ob Homosexualität sich nur in der Eigensinnigkeit einiger Jugendlicher zeigen würde. Abgetan als Protestreaktion und pubertäre Provokation kann man gesellschaftskritische Stimmen aus diesem Bereich viel besser ignorieren. Das die zunehmenden Zahlen vor allem auf gestiegene Akzeptanz und dem damit einhergehenden Mut zu sich zu stehen zurückzuführen sind, scheint in diesen Überlegungen keine Rolle zu spielen. Wenn Eigensinn bedeutet, zu sich selbst zu stehen, sich nicht verbiegen zu lassen und seinem Herzen zu folgen, dann hoffe ich, dass möglichst jeder Mensch eine gesunde Eigensinnigkeit entwickelt.

Eigensinn als Tugend der Seele

Eine der liebsten Tugenden vom Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse ist der Eigensinn. Wenn wir von Tugenden in Büchern lesen oder von Lehrer*innen über sie belehrt werden, sei oft eine Form von Gehorsam damit gemeint. Nach Hesse wäre nun die Frage wem man gehorcht: Den Anderen? Den „Gesetzen“ der Norm? Oder seinen eigenen „Gesetzen“? Seinen eigenen inneren Wertevorstellungen. Eigensinn wäre unbeliebt, würde als Laster gelten und meistens dort erwähnt, wo er stört und Hass erregt. Hesse gibt hier Sokrates, Jesus und Giordano Bruno als Beispiel.

Jesus hat durch sein Leben das Christentum begründet. Ihm wurde vorgeworfen, sich als „König der Juden“ aufzuspielen und das Land beherrschen zu wollen. Dafür musste er schließlich am Kreuz mit seinem Leben bezahlen.

Entgegen kirchlichen Auffassungen, in welchen sich alles um die Erde dreht, vertrat Bruno im fünfzehnten Jahrhundert die Theorie von der Unendlichkeit des Weltraums. Er ging davon aus, dass Gott eins mit dem Kosmos und der Natur ist, dass das Universum Anfangslos sei. Dafür wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt, denn seine Perspektive der Zeitlosigkeit ließ keinen Platz für Anfang oder Ende, also für die Schöpfungsgeschichte oder das Jüngste Gericht. Durch die Unendlichkeit des Universums findet auch kein Jenseits mehr einen Raum.


Die Bibel als Waffe

Religiosität stellt in vielen Geschichten die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie kann die Augen für großartige Wunder öffnen, durch den großzügigen Interpretationsspielraum aber auch missbraucht oder missverstanden werden.

Ob die besonders Suizid gefährdeten Regenbogenjugendlichen wohl vor ihrem entgültigen Entschluss an Gott gedacht haben? Für viele ist er tot. Ich habe auch mit ihm gekämpft. Meine Familie ist mütterlicherseits katholisch und väterlicherseits evangelisch. Durch meine sexuelle Orientierung und Identifizierung konnte ich viele Erfahrungen mit Menschen sammeln, die ihre Religion dazu benutzen mich auszuschließen. Das brachte mich dazu gleich der ganzen Religiosität vor meinem Haus die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Für mich sendete jede Art religiöser Gläubigkeit dunkle Strahlen aus Ignoranz, Vorurteilen und Hass in meine Welt. Am liebsten hätte ich alles unter einem Eimer Glitzer begraben, damit sie mir nicht mein Leben ruiniert.

Wenn mich meine eine Verwandte, die eine katholische Ordensschwester ist, fragt ob ich denn immer noch Jungs mag, dann antworte ich, dass ich mich in die Seele eines Menschen verliebe und frage sie was für eine Rolle das denn spielt. Als Antwort bekomme ich, dass es ja eigentlich normal ist wenn Mann und Frau zusammen sind. Die Bischöfin Kristin Saylor und der Pastor Jim O’Hanlon sprechen in ihrem TEDx-Talk darüber, was die Bibel über Homosexualität sagt. Zuerst erläutern sie, wie einige religiöse Menschen Texte aus der Bibel für Argumentationen und Macht missbrauchen. Diese meinen man müsse die Bibel wortwörtlich nehmen. Jim O’Hanlon meint dies wäre verrückt, denn Aussagen wie „Gott ist unser Stein, unser Schwert, unser Schild“ kann man nicht wortwörtlich nehmen. Ich stelle mir einen Typen mit Rauschebart vor der mit einem Stein spricht und zu ihm betet. Wir beten ja auch keine weiße Taube an, weil sie eine Metapher für den heiligen Geist ist.

Menschen die Texte so auslegen wollen, glauben sie hätten damit durch unumstößliche Argumente die Macht und können Diskussionen gewinnen. Ihr unschlagbares Argument: so steht es wortwörtlich in der Bibel. O’Hanlon führt aus, dass auch Menschen in Machtpositionen dies ausnutzen. Als Beispiel erwähnt er einen Abgeordneten aus dem Repräsentantenhaus, welcher die Aussage „Gott schuf den Mann und die Frau“ als schlagendes Argument in Debatten über sexuelle Orientierung, Genderidentifizierung und Abweichungen vom biologischen Geschlecht nutzt. Der Abgeordnete gehe sogar so weit, dass er dieses Argument benutzt, um der Regierung vorzuwerfen, sie wolle dass die Menschen die Bibel vergessen (weil sie diese Debatten ja führen würden).

Politische Polarisierung für den Status Quo: alles soll bleiben wie es immer war.

Die Bibel wird zur Waffe gegen das Neue oder Fremde umfunktioniert. Wie unter einem riesigen Lupenglas wird nur eine Perspektive sichtbar, deren vermeintlichen Erleuchtung und Wahrheit alles andere ausblendet und verbrennt. Ich führe hier nicht noch Beispiele von Hexenverbrennung aus, in deren Folge sich das kirchliche Vermögen exponentiell vermehrte. Giordano Bruno soll als ein Beispiel von vielen reichen.

Die Bibel hat nach O’Hanlon allerdings nicht nur eine Perspektive, nicht nur eine Stimme, eine Definition von Gott oder die eine Theologie. Sie hat auch keine feste Vorstellung von der Ehe oder eine feste, ethische Vorstellung zu Sexualität. Die Bibel ist mehr eine Anthologie als ein Buch. In ihr vereinen sich viele Stimmen, Geschichten und Perspektiven, welche als Gleichnis erzählt Bezüge im Alltag finden. Eine Bücherhalle mit einer großen Auswahl an Weisheit, unterschiedlichen Erzählungen und vielfältigen Standpunkten.

„Sodom und Gomorrah“: Die missverstandenste Geschichte der Bibel

Bischöfin Kristin Saylor stellt fest, dass die Menge der Berichterstattung der Medien über Themen wie die Ehe für alle oder genderneutrale Toiletten nicht mit der Bibel in einem Verhältnis steht, denn weniger als ein Prozent der Bibel würde Homosexualität behandeln. Statistisch gesehen wäre dies also keine Priorität für die Bibel und die wenigen Geschichten über gleichgeschlechtliche Liebe, seien oft nicht ins richtige Verhältnis gesetzt oder aus dem Zusammenhang gerissen.

Sie erzählt von einem der berühmtesten Beispiele dieser Geschichten „Sodom und Gomorrah“, welche insbesondere durch die Anti-Sodomie-Gesetze bekannt wurde. Mit Sodomie ist Sexualität gemeint, die nicht dem Zweck der Fortpflanzung in der Ehe dient, also nicht nur Homosexualität, sondern auch Analsex, Oralsex, Masturbation oder andere sexuellen Handlungen die nicht in direktem Zusammenhang mit Reproduktion stehen. Der Ausdruck leitet sich aus der Geschichte ab. Viele nutzen den Begriff, ohne ihn richtig zu verstehen.

Bei Sodom und Gomorrah geht es um zwei Reisende die am Rand der Stadt Sodom einen Rastplatz suchen. Sie haben kein Glück, sind dabei aufzugeben und die Nacht auf dem Stadtplatz zu verbringen. Doch ein Mann namens Lot hat Mitleid mit ihnen und lässt sie für diese Nacht in sein Haus. Zum Glück, denn keine fünf Minuten später hämmert der Stadtmob an seiner Tür und möchte die Männer holen beziehungsweise kennenlernen. Hier ist Kennenlernen nicht als freundliches Begrüßen gemeint, sondern sie wollen sie intim, sexuell und in diesem Fall gewaltvoll kennenlernen. Es geht um Gruppenvergewaltigung. Lot fleht sie an, nicht so böse zu handeln und bietet als Austausch seine zwei jungfräulichen Töchter, was wiederum in jeder Hinsicht verdreht ist. Die Geschichte endet als Gott über die gesamte Situation so wütend wird, dass er die Stadt für deren Sünden zerstört.

Was genau war die Sünde von Sodom? War es das Männer mit Männern schlafen? Oder war es der Mob, der forderte die Gäste von Lot zu vergewaltigen? Du merkst wie schnell wir hier Schlüsse ziehen und wie das sofort unser Urteilsvermögen beeinflusst.

Was sagt uns die Geschichte? Und was sagt sie uns nicht? Die Geschichte beschreibt, wie eine ganze Stadt sich vor einem Haus versammelt, um diese zwei Männer zu vergewaltigen. Heißt das, es geht um zwei Erwachsene die der Öffentlichkeit zeigen wollen, dass sie eine monogame Beziehung führen wollen? Wie ist das alles wirklich miteinander verbunden, wenn wir über eine ganze Stadt reden, die in einer Massenvergewaltigung diese zwei Männer misshandeln will? Wir haben Lot der diesem Vorhaben und damit einer ganzen Stadt entgegen steht. Er sieht diese zwei Menschen. Er sieht wie ungeschützt sie sind. Sie sind auf Reisen, weit weg von Zuhause, vielleicht verstoßen, vielleicht gejagt. Es sind Fremde, die sich von der Gemeinschaft abheben und nicht dazu gehören. Sie sind schwach und in vielerlei Hinsicht anfällig. Lot möchte sie beschützen. Wenn die Stadt nach ihnen fordert, fleht er die Bürger an nicht so böse zu ihnen zu sein. Wenn die Stadt nach ihnen fordert, fleht er sie an nicht so böse zu ihnen zu sein. Und wie er da der gesamten Stadt entgegensteht, dreht diese sich zu ihm und beschuldigt ihn ebenfalls nicht dazu zu gehören, da er ja noch nicht so lange hier wäre und nicht die gleichen Vorstellungen wie sie hätte. Lot ist also selbst verletzlich in dieser Situation, setzt sich dem aber trotzdem für Menschen aus die noch verletzlicher sind. Er bietet sogar noch seine Töchter an. Das lässt die Frage aufkommen warum jemand darauf besteht, dies wortwörtlich zu verstehen. Wenn die Bibel über die Sünde von Sodom spricht, handelt es sich dann wirklich um gleichgeschlechtliche Partner oder um Gewalt und den sexuellen Missbrauch von Menschen?

Etwas früher in der Bibel gibt es eine Stelle im Buch Ezekiel (16:49) „Fürwahr, das war die Schuld Sodoms, deiner Schwester: Hoffart, Überfluß an Nahrung und sorglose Ruhe ward ihr und ihren Töchtern zu teil, aber die Elenden und Bedürftigen stützte sie nicht, sondern waren stolz und taten Greuel vor mir; darum ich sie auch weggetan habe, da ich begann dareinzusehen.“

Mit Schwester ist hier eine Metapher gemeint, es handelt sich um Städte die in der Nähe voneinander liegen, also Schwesterstädte sind. Ebenso stehen die Töchter metaphorisch für die Bevölkerung, es wird hier also von den Städten und der Bevölkerung gesprochen. Es sieht so aus, als ob diese Geschichte dazu benutzt wird eine Randgruppe zur Zielscheibe zu machen, zu sagen, dass Homosexuelle oder Regenbogenmenschen gemieden oder bestraft werden sollen, obwohl es hier darum geht, dass die Menschen in unserem Umfeld, die am schwächsten sind, die uns am meisten brauchen, die verletzlichsten Menschen um uns, die Menschen sind, um die wir uns kümmern sollten. Es ist also wichtig, sich mit solch gesellschaftsprägenden Geschichten intensiv auseinanderzusetzen, um deren Kern zu verstehen. Sich zu fragen, was sagt dieser Text wirklich? Was sagt er nicht? Was meint er? Wofür steht diese Geschichte?

Eine weitere Möglichkeit wäre es, die Bibel als Ganzes zu lesen, mit ihren vielfältigen Stimmen und dann zu Fragen, wie könnte man sie regenbogenfreundlich oder queerfreundlich machen?

Es kommt mir so vor, als ob die Aussagen bzw. Überzeugungen meiner religiösen Verwandten, aus einem Normdenken oder einem Normempfinden erwachsen, welches diese Berücksichtigung nicht trägt. Platt gesagt: so hat es doch einfach zu sein und so hat es sich doch zu leben, wenn man religiös sein möchte.

Und wenn man trauert hat man doch zum Grab zu gehen. Ich war nicht bei der Beerdigung meiner Mutter und habe keine Verbindung zu ihrem Grab. Die Verbindung meiner Verwandten zu solchen Orten kann ich jedoch nachvollziehen und respektiere ihre Einstellung. Ich verstehe auch, dass sie durch ihre Prägungen ein bestimmtes Bild von Homosexualität entwickelt hat und sehe sie als ganze, komplexe Persönlichkeit, als fürsorglichen Menschen, den sehr viel mehr ausmacht als nur seine Religion. Wenn du selbst in deiner Vielseitigkeit akzeptiert werden möchtest, dann musst du auch andere in ihrer Diversität akzeptieren.

Einige Regenbogenmenschen verteufeln Religiosität, weil sie sich von ihr abgewertet fühlen und sie als Bedrohung wahrnehmen. Sie sehen nur die schlechten Eigenschaften, polarisieren mit Argumenten wie zum Beispiel dem Missbrauch vieler Kinder in katholischen Kirchgemeinden. Umgekehrt gibt es Fundamentalisten, welche alle Regenbogenmenschen verteufeln. Ich bin mir sicher, dass auch die anfangs erwähnten Aldi-Männer freundliche Seiten haben, was nicht dazu auffordert ihre Entgleisung wiederspruchslos zu dulden. Man sollte sich die Zeit nehmen, alle Blickwinkel zu betrachten. Vielleicht besteht dann sogar die Chance sich auszusprechen. Ob es nun Glaube, Kultur oder etwas anderes ist, alles ist Segen oder Fluch. Es kommt darauf an, was wir daraus machen und wie genau wir hinsehen.


Wie Skepsis zum wahren Glauben führt

Jeder von uns hat prägende Erfahrungen gemacht, welche mögliche Chancen verschließen. Es liegt an uns, einen Weg zu finden damit umzugehen und diese Türen wieder zu öffnen. Sich den eigenen Wert bewußt zu machen und die Würde zu bewahren ist wichtig für emotionale Stärke.

Ich trauere nicht am Grab. Wenn es stimmt was Anselm Grün sagt, dass Trauern lieben heißt, dann liebe ich meine Eltern in dem ich sie in meinem Herzen trage, über sie schreibe oder durch mein Handeln und Denken ihre Herzen in meiner Brust schlagen lasse.

Hat mein Trauern jemals aufgehört? Vielleicht drücke ich mich deswegen so gerne künstlerisch aus, weil so meine Emotionen dort einen passenden Raum haben, in welchem sich Trauer und Sehnsucht nach der verlorenen Liebe von Mama und Papa frei entfalten können. Deswegen sind meine Geschichten und die Menschen denen ich begegnen darf, mit denen ich diese Innerlichkeit teile irgendwie mit meinen Eltern verbunden. Es ist die tiefe Emotionalität, die ich suche und die mich antreibt, die Angst vor der Einsamkeit, die für mich ein Miteinander so wichtig macht.

Ich habe meinen ganz eigenen Weg im Umgang mit anderen gefunden. Es ist nicht einfach das zu akzeptieren, denn bei jedem Individuum nehmen die Wege andere Routen. Zumindest die Einstellung meiner Verwandten zu tolerieren und trotzdem zu sich zu stehen, nicht die Begegnung zu meiden, das ist Miteinander. Das ist „Friedensarbeit“. Es liegt an einem selbst, ob man diesen Weg gehen möchte oder nicht. Das meine ich wertfrei. Es gibt nachvollziehbare Situationen, in denen es vielleicht sogar besser ist getrennter Wege zu gehen oder auch mal ein ernstes Wort zusprechen. Lieben heißt auch Grenzen setzen. Für jeden Menschen ist etwas anderes „normal“, meistens sprechen wir hier aber von der Mehrheitsmeinung und missverstehen, dass wirkliche Gemeinschaft auf die gegenseitige Akzeptanz der Individualität basiert.

Das erinnert mich wieder an Bischöfin Kristin Saylor. Auf ihrem Blog schreibt sie von ihrer Unfähigkeit „normal“ zu beten. Sie hat es oft versucht und um Rat gefragt, doch die Stille half ihr nie, eher verschlimmerte sie ihre Angst. „Mein Gebetsleben passt nicht in eine Kiste“ schreibt sie, denn ihre Begegnung mit Gott erfährt sie sehr unkonventionell. Sie erlebt Gott intensiver durch körperliche Betätigung. Wenn sie schwimmt macht sie die intensivste Erfahrung.

Ich stelle mir vor, wie sie in das Wasser springt, plötzlich eins wird mit ihrer Umgebung, wie sie vom Wasser aufgefangen wird, es von sich wegstößt und gleichzeitig hinter sich herzieht, wie es sich gleich einem schützenden Mantel aus der puren Existenz des Seins um sie legt, wie sie ihn spürt, er sie wärmt und zu einem Teil von ihr wird. Ein pulsierender Teil der fließend kommt und geht und sich immer wieder neu um sie und ihr Leben legt. Ich sehe darin eine Erfahrung, die nur aus Freiheit heraus entstehen kann. Der Freiheit, die das Fundament einer Wahrhaftigkeit sein kann, einer Wahrhaftigkeit, die Welt zu spüren und den Geist der ihr innewohnt. Die Grundlage für „wahren Glauben“.

Professor Uwe Lehnert lehnt Glauben ab und sieht in der Aussage von Papst Johannes Paul II., dass Wissenschaft und Glaube sich begegnen sollten, einen unvereinbaren Widerspruch, denn Wissenschaft hätte ihre Berechtigung durch klare Fakten, welche ein Glaube nicht geben könne. Er unterstellt den Protestanten, Astrophysiker und Philosophen Professor Harald Lesch sogar, dass er ja nur zu seinem Glauben stehen würde, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, weil ihm die Wissenschaft keine endgültigen Antworten geben könne. Darüber hinaus unterstellt er ihm „frühkindliche Indoktrination“ von der er sich nicht befreien könne. Hier frage ich mich wie Uwe Lehnert dazu kommt, in einem Essay, welches für die Wissenschaftlichkeit brennen will, solche emotionalen, sarkastischen und erniedrigenden Aussagen zu schreiben. Immerhin „glaubt“ er hier auch nur an bestimmte Vermutungen und lässt die zu erwartende Rationalität vermissen.

Lehnert spricht von „theologisch eingekleidete[n] Behauptungen“, ohne sich intensiver mit dem Verstehen der Religiosität zu beschäftigen. Es ist schade, dass er genau an dem Punkt seines Artikels, an dem die Voraussetzung des skeptischen Glaubens erwähnt wird, nämlich Religion als Geschichte und in der Methaphernsprache zu begreifen, nicht genauer nachforscht und nur eine Aufgelöstheit sieht, in der keine Vereinbarkeit möglich wäre. Er streitet für die genauen Erkenntnisse der Wissenschaft und erkennt nicht, dass religiöse Texte durch ihre Offenheit eine Quelle der Erkenntnisse sind. Diese Offenheit ist die Voraussetzung, dass sie für Individuen eine Quelle der Sinngebung werden kann. Genau diese individuelle, vielseitige oder „unendliche“ Leistung für das Individuum kann die Naturwissenschaft in den Grenzen ihrer Eindeutigkeit nicht leisten. Es ist als ob du ein Blatt Papier vor dir hast. Wissenschaftlich könntest du die Zusammensetzung des Papiers analysieren, du könntest darüber philosophieren welche historische Bedeutung diese Erfindung hatte. Aber welche Bedeutung es für dich haben könnte, wenn du damit deine Empfindungen ausdrückst, was der Sinn dieses Papiers (beziehungsweise der Zeichnung die du anfertigst) für den jetzigen Moment in deinem Leben hat, die Offenheit, die unendlichen Möglichkeiten, die diese Fläche jeden anderen Menschen auf der Welt gibt, die ist so nicht zu fassen. Dies wird erst durch das subjektive Fühlen und Denken geschaffen. In diesem individuellen Prinzip steht sie der Wissenschaft, mit ihren allgemein kausalen Regeln, nicht gegensätzlich gegenüber. Wissenschaft kann in die Zeichnung oder Herzensbildung des Individuums hilfreich einfließen.

Die komplexe Systematik vom Verstehen versuchen Christine und Frido Mann mit der Quantenphysik zu untersuchen. Frido Mann, der Nachfahre von Thomas Mann, beleuchtet warum Sprache in Metaphern wichtig ist (Sternstunde Religion, ab Minute 26). Dazu gleich noch mehr.

Ich habe erst spät durch meine Mama den Zugang zur Religiosität gefunden. Sie ist zwar gestorben als ich acht Jahre war, aber sie hat mir eine Kiste mit Briefen hinterlassen, in denen ich ihr begegnen kann wann immer ich möchte. Als ich mich endlich überwand hinein zu sehen, fand ich neben den Briefen ein Buch: „Schöpfungsmythen der westlichen Welt“ von Barbara C. Sproul. Darin werden verschiedene Schöpfungsmythen als Grundlage für unsere Wahrnehmung der Welt erklärt. Ganz besonders traf mich eine Erklärung des Gottesbegriffs. Sie spricht von Gott als Grund des Seins. Wir können durch die Wissenschaften zwar bis zum Urknall die Entstehung der Welt nachvollziehen, aber wir wissen nicht was davor war. Dieses Problem, dass wir nicht sagen können der Grund des Seins war ETWAS oder der Grund des Seins war NICHTS, lösen Religionen mit der Metapher Gottes oder der Götter. Demnach ist man also bei der Danksagungen Gottes eigentlich dankbar dafür das es die Welt gibt, das wir existieren. Die Regeln kommen erst durch die Werte der jeweiligen Kultur dazu. Deswegen gibt es auch nicht nur eine Religion oder eine Wahrheit. Schöpfungsmythen sind von ihrem Prinzip her offen für viele Perspektiven, denn nur so können sie eine Quelle der Sinngebung sein.


„Nimmt man daher die Aussagen irgendeines Mythos buchstäblich, so ist dies ein großer Fehler. Man verwechselt dann die Wertung des Mythos mit wissenschaftlichen Tatsachen, was zu den schlimmsten Formen von Religiosität führen kann. Denn eine derartige Buchstäblichkeit bringt einen Glauben hervor, der das Bewußtsein eher spaltet als eint. Wer der Auffassung ist, ein bestimmter Mythos habe einen absoluten Wert, untergräbt die Macht des Mythos zur Sinngebung in der Welt. Er verwandelt Mythen in Hindernisse für eine Sinngebung, statt in eine Quelle der Sinngebung. Erstarrt in der Zeit, beschreiben aus Mythen abstrahierte Dogmen [unumstößliche Regeln] dann eine Welt, die von unserer aktuellen Wirklichkeit meilenweit entfernt und ohne Bedeutung für sie ist. Die Anhänger des Mythos werden auf diese Weise ihrer Gegenwart und deren Entwicklung entfremdet. Es sind dann blind glaubende Menschen, die gezwungen sind, Denken und Empfinden — und die Wahrhaftigkeit in beidem — der Sicherung ihrer Glaubensinhalte zu opfern. Diese Art von Buchstabenglaube ist der eigentliche Götzendienst, der Gegensatz zum echten Glauben.“ (Schöpfungsmythen der westlichen Welt, S. 17)


Ich tanze mit Gott

Ich finde den Gedanken, dass meine Mama die gleichen Seiten berührte, die gleichen Worte las und ähnlich wie ich dazu Erfahrungen machte, die ihren Geist und ihr Herz öffneten, schön. Wenn ich ihre Briefe lese, ist es, als ob ihre Worte, ihr Herz anfängt in meiner Brust zu schlagen und sie so nicht nur biologisch, sondern auch geistig ein Teil von mir ist. Ein Teil meiner Seele.

Ähnlich wie Kristin Saylors besondere Verbindung zum Schwimmen, ist für mich das Tanzen. Meine inneren Empfindungen werden eins mit der Musik und kommen als Bewegungen aus mir heraus. Es ist als ob mein Geist mit der Welt um sich verschmelzen will, die Töne in sich aufnimmt und durch Bewegung mit allen äußeren Dingen spricht. Am intensivsten erlebe ich diese Verbindung beim Tanzen. In diesen Momenten hatte ich auch meine intensivsten Küsse. Dieses Verschmelzen mit der Welt, mit einem Menschen dessen Innerstes sich ebenfalls beim Tanzen offenbart ist für mich ein Wunder! Da meine Mama auch am liebsten tanzte, ist sie in diesen schönsten Momenten meines Lebens irgendwie doch bei mir. Es sind Momente in denen ich frei von allen Zweifeln bin. Ich bin einfach da und tanze. Ich bin eins mit meinem Empfinden und der Welt. Trotzdem fließen Gedanken durch mein Herz, ich lasse alles zu und habe keine große Angst vor Vorurteilen oder empfinde übertriebene Freude über die Chancen dieses Augenblicks und der Zukunft. Böse Blicke wandle ich ebenso wie ein Lächeln in energetische Bewegungen um. Es ist als ob diese Energie von mir gebändigt werden könnte. Ich sehe dann so klar. Wenn ich in der Wunderbar oder beim Pink Inc feiere, sehe ich anhand der Bewegungen beim tanzen wie die Menschen wirklich sind. Ich sehe die verschworene Gruppe Tänzer*innen, die in ihrer gewollten Empfindsamkeit und ihren trainierten Bewegungen ihre Persönlichkeit an die Arroganz verlieren. Ich sehe die Gruppe von jungen, heterosexuellen Mädchen, die alles so aufregend finden, sich von dem einen oder anderen Schwulen und versehentlich sicher auch mal Bi- oder Pansexuellen, küssen lassen und ich sehe die Metzger, die sich ihr Fleisch anschauen und mich ab und an mit ihren Messerfingern anfassen wollen und lächle wenn ihr Stahl in meinen Bewegungen zerbricht. Aber ich sehe auch die Schüchternen, die darauf hoffen angesprochen zu werden, deren reines Herz noch nicht von Metzgern im Schafspelz abgestumpft wurde, deren Augen noch leuchten und deren Lippen manchmal mit einem Lächeln nach Hause fahren, das sagt, es war ein besonderer Abend, meine erste Erfahrung und von mir geküsst worden sind. Im bunten Licht der Discokugel ist so viel möglich. Ganz nach Pico Mirandolas berühmter Formel

"wir sind das, was wir sein wollen“.

Nach dieser Formel können wir selbst aus der Mitte der Welt heraus zu allem werden, was wir sein wollen. Da wir die Fähigkeit besitzen von diesem Nullpunkt heraus in alle Richtungen zu gehen, den Weg der Draufgängerin oder des Gelehrten einschlagen können, wir können zum Engel oder zum Verbrecher werden oder mal auf dem Holzweg und mal auf der selbst gebauten Straße fahren.

Die Wissenschaftsredakteurin Christina Bernd erzählt eine hierzu passende Geschichte von Brian Litte: Dieser Psychologie-Professor an der Universität Cambridge ist von Natur aus sehr introvertiert, nutzt aber die sogenannten „freien Eigenschaften“ zum persönlichen Wachstum. Diese Eigenschaften würden zutage treten, wenn man etwas wirklich will. Sie setzen Neues in der Persönlichkeit frei. Da wird eine sonst sehr angenehme Frau fordernd zur Ärztin, da sie mit ihrer kranken Mutter bereits drei Mal abgewiesen wurde, ein extrovertierter Student vergräbt sich in der Bibliothek und sagt Partys mit Freunden ab, um sein Examen gut zu bestehen und der introvertierte Brian Little setzt Vorlesungen als eine Art Show mit viel Humor um, da er weiß, dass Studierende so etwas brauchen damit ihr Kopf wach wird. Das Konzept geht mehr in die Richtung gestalte dich selbst, als sei du selbst.

Der Organisations- und Gesundheitspsychologe Ben Fletscher meint, er wäre jedes Mal bestürzt, wenn er höre, dass Leute anderen Raten „Sei einfach du selbst!“, denn die Gewohnheiten eines Menschen passen nicht immer zu den Aufgaben und je statischer die Persönlichkeit eines Menschen ist, umso schwerer wäre das Anpassen an neue Umstände. Da lernt der angehende, scheue Arzt schon mal mit Menschen über Intimes zu sprechen oder andere zu berühren, weil er unbedingt Arzt werden möchte. Fletscher ist der Meinung, dass die Fähigkeit diese freien Eigenschaften nutzen zu können darüber bestimmt, wie erfolgreich man im Leben ist. Ich merke das im Club ja schon, wenn ich mich beim Tanzen auf die Persönlichkeiten der anderen einlasse, denn dann entsteht eine Verbindung. Wenn ich bei einer schüchternen Person extrovertiert und laut auftreten würde, dann hätte die Person eher Angst und würde flüchten wollen. Wenn ich sanft auf die Bewegungen eingehe und mal eine freche, Eindruck schindende Empfindung ausdrücke, um mich dann wieder ihm, ihr oder sier zu widmen, dann entsteht so viel mehr.

Der neue Tag bricht an. Ich gehe mit meinem Regenschirm zur Bahn und die ganze Nacht rauscht, wie der Regen auf der Straße, in meinem Herzen weiter. Ich denke an die Buchstabengläubigen, Männer die im Zwang ihrer Stärke auf Teile ihres Selbst verzichten, die pulsierenden Menschen im bunten Licht, die Küsse, meine Verwandte, die mich trotzdem liebt und alles verschwimmt im neuen Tag, in der nassen Sommerluft, im Gefühl lebendig zu sein.

Im Nachtleben tummeln sich Geheimnisse, philosophische Erfahrungen, Abenteuerlust und Liebe, aber auch Oberflächlichkeiten und Gewalt.

Die zwei Aldi-Männer habe ich übrigens Jahre später erneut beim Einkaufen gesehen. Sie blickten immer wieder verstohlen zu mir rüber. Es wirkte als hätten sie Angst oder als würden sie sich schämen. Ich stellte mich absichtlich in die Schlange hinter ihnen, fing an etwas über das Wetter zu sagen und lächelte sie an. Noch heute sehe ich sie ab und an beim Einkaufen. Böse angeschaut wurde ich nicht mehr.

Mit Vergebung änderst du nicht die Vergangenheit, aber die Zukunft.




240 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page