Herz vor Dogma: vertragen sich Religion und Homosexualität?
Aktualisiert: 26. Juli 2020
Nach dem Einkaufen wurde ich angespuckt. Ich ging mit meinem damaligen Freund durch Aldi und rief „Baby“, um ihn auf irgendetwas aufmerksam zu machen.
Das brachte uns die uneingeschränkte Aufmerksamkeit von zwei Männern, deren böse Blicke uns während des gesamten Einkaufs verfolgten. Ich ließ mich nicht einschüchtern und starrte zurück. Damon und ich waren grade über ein Jahr ein Paar und frisch zusammengezogen. Die Sommerluft schmeckte nach Freiheit, Freiheit die uns nicht jeder zugestehen wollte. Als wir Hand in Hand auf dem Weg nach Hause den Gehweg entlangschlenderten, fuhren die Aldi-Männer an uns vorbei und spuckten mich aus der Sicherheit ihres Fahrzeuges heraus an. Sie schmierten mir aus sicherer Entfernung ihre Verachtung, ihren Ekel, ihre vermeintliche Macht, ihre fragwürdige Überlegenheit, ihre eigene Unzufriedenheit, aber auch ihre Angst mit einer äußerst erniedrigenden Aktion auf die Jacke. Wir machten Beweis-Fotos und gingen zur Bergedorfer Polizei, am Bahnhof vorbei, wo wir sie mit ihrem Auto stehen sahen. Handys raus und schnell hin, um sie per Video festzuhalten. Zielstrebig eilten wir auf ihr Fahrzeug zu. Als wir in ihrem Blickfeld erschienen, verließen sie mit quietschenden Reifen den Parkplatz. Die „tapferen und starken“ Männer flüchteten aus Angst vor Konsequnzen.

Noch immer bestimmt Homophobie den Alltag. „Ich habe ja nichts gegen Schwule aber müssen die das hier machen?“ Trotz intensiver Aufklärung und gesetzlicher Veränderungen ist gesellschaftliche Akzeptanz und Gleichberechtigung noch ein fernes Ziel. Das wird auch in dem Artikel „Vom Auflösen und Finden der Menschlichkeit“- erschreckend deutlich. Manche verbreiten sogar das Gerücht Homo-, Bi-, oder Pansexualität sei nur ein Trend. Papst Franziskus nennt sie sogar eine „Mode“. Als ob Homosexualität sich nur in der Eigensinnigkeit einiger Jugendlicher zeigen würde. Abgetan als Protestreaktion und pubertäre Provokation kann man gesellschaftskritische Stimmen aus diesem Bereich viel besser ignorieren. Das die zunehmenden Zahlen vor allem auf gestiegene Akzeptanz und dem damit einhergehenden Mut zu sich zu stehen zurückzuführen sind, scheint in diesen Überlegungen keine Rolle zu spielen. Wenn Eigensinn bedeutet, zu sich selbst zu stehen, sich nicht verbiegen zu lassen und seinem Herzen zu folgen, dann hoffe ich, dass möglichst jeder Mensch eine gesunde Eigensinnigkeit entwickelt.
Eigensinn als Tugend der Seele
Eine der liebsten Tugenden vom Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse ist der Eigensinn. Wenn wir von Tugenden in Büchern lesen oder von Lehrer*innen über sie belehrt werden, sei oft eine Form von Gehorsam damit gemeint. Nach Hesse wäre nun die Frage wem man gehorcht: Den Anderen? Den „Gesetzen“ der Norm? Oder seinen eigenen „Gesetzen“? Seinen eigenen inneren Wertevorstellungen. Eigensinn wäre unbeliebt, würde als Laster gelten und meistens dort erwähnt, wo er stört und Hass erregt. Hesse gibt hier Sokrates, Jesus und Giordano Bruno als Beispiel.
Jesus hat durch sein Leben das Christentum begründet. Ihm wurde vorgeworfen, sich als „König der Juden“ aufzuspielen und das Land beherrschen zu wollen. Dafür musste er schließlich am Kreuz mit seinem Leben bezahlen.
Entgegen kirchlichen Auffassungen, in welchen sich alles um die Erde dreht, vertrat Bruno im fünfzehnten Jahrhundert die Theorie von der Unendlichkeit des Weltraums. Er ging davon aus, dass Gott eins mit dem Kosmos und der Natur ist, dass das Universum Anfangslos sei. Dafür wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt, denn seine Perspektive der Zeitlosigkeit ließ keinen Platz für Anfang oder Ende, also für die Schöpfungsgeschichte oder das Jüngste Gericht. Durch die Unendlichkeit des Universums findet auch kein Jenseits mehr einen Raum.
Die Bibel als Waffe
Religiosität stellt in vielen Geschichten die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie kann die Augen für großartige Wunder öffnen, durch den großzügigen Interpretationsspielraum aber auch missbraucht oder missverstanden werden.
Ob die besonders Suizid gefährdeten Regenbogenjugendlichen wohl vor ihrem entgültigen Entschluss an Gott gedacht haben? Für viele ist er tot. Ich habe auch mit ihm gekämpft. Meine Familie ist mütterlicherseits katholisch und väterlicherseits evangelisch. Durch meine sexuelle Orientierung und Identifizierung konnte ich viele Erfahrungen mit Menschen sammeln, die ihre Religion dazu benutzen mich auszuschließen. Das brachte mich dazu gleich der ganzen Religiosität vor meinem Haus die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Für mich sendete jede Art religiöser Gläubigkeit dunkle Strahlen aus Ignoranz, Vorurteilen und Hass in meine Welt. Am liebsten hätte ich alles unter einem Eimer Glitzer begraben, damit sie mir nicht mein Leben ruiniert.
Wenn mich meine eine Verwandte, die eine katholische Ordensschwester ist, fragt ob ich denn immer noch Jungs mag, dann antworte ich, dass ich mich in die Seele eines Menschen verliebe und frage sie was für eine Rolle das denn spielt. Als Antwort bekomme ich, dass es ja eigentlich normal ist wenn Mann und Frau zusammen sind. Die Bischöfin Kristin Saylor und der Pastor Jim O’Hanlon sprechen in ihrem TEDx-Talk darüber, was die Bibel über Homosexualität sagt. Zuerst erläutern sie, wie einige religiöse Menschen Texte aus der Bibel für Argumentationen und Macht missbrauchen. Diese meinen man müsse die Bibel wortwörtlich nehmen. Jim O’Hanlon meint dies wäre verrückt, denn Aussagen wie „Gott ist unser Stein, unser Schwert, unser Schild“ kann man nicht wortwörtlich nehmen. Ich stelle mir einen Typen mit Rauschebart vor der mit einem Stein spricht und zu ihm betet. Wir beten ja auch keine weiße Taube an, weil sie eine Metapher für den heiligen Geist ist.
Menschen die Texte so auslegen wollen, glauben sie hätten damit durch unumstößliche Argumente die Macht und können Diskussionen gewinnen. Ihr unschlagbares Argument: so steht es wortwörtlich in der Bibel. O’Hanlon führt aus, dass auch Menschen in Machtpositionen dies ausnutzen. Als Beispiel erwähnt er einen Abgeordneten aus dem Repräsentantenhaus, welcher die Aussage „Gott schuf den Mann und die Frau“ als schlagendes Argument in Debatten über sexuelle Orientierung, Genderidentifizierung und Abweichungen vom biologischen Geschlecht nutzt. Der Abgeordnete gehe sogar so weit, dass er dieses Argument benutzt, um der Regierung vorzuwerfen, sie wolle dass die Menschen die Bibel vergessen (weil sie diese Debatten ja führen würden).
Politische Polarisierung für den Status Quo: alles soll bleiben wie es immer war.

Die Bibel wird zur Waffe gegen das Neue oder Fremde umfunktioniert. Wie unter einem riesigen Lupenglas wird nur eine Perspektive sichtbar, deren vermeintlichen Erleuchtung und Wahrheit alles andere ausblendet und verbrennt. Ich führe hier nicht noch Beispiele von Hexenverbrennung aus, in deren Folge sich das kirchliche Vermögen exponentiell vermehrte. Giordano Bruno soll als ein Beispiel von vielen reichen.
Die Bibel hat nach O’Hanlon allerdings nicht nur eine Perspektive, nicht nur eine Stimme, eine Definition von Gott oder die eine Theologie. Sie hat auch keine feste Vorstellung von der Ehe oder eine feste, ethische Vorstellung zu Sexualität. Die Bibel ist mehr eine Anthologie als ein Buch. In ihr vereinen sich viele Stimmen, Geschichten und Perspektiven, welche als Gleichnis erzählt Bezüge im Alltag finden. Eine Bücherhalle mit einer großen Auswahl an Weisheit, unterschiedlichen Erzählungen und vielfältigen Standpunkten.
„Sodom und Gomorrah“: Die missverstandenste Geschichte der Bibel
Bischöfin Kristin Saylor stellt fest, dass die Menge der Berichterstattung der Medien über Themen wie die Ehe für alle oder genderneutrale Toiletten nicht mit der Bibel in einem Verhältnis steht, denn weniger als ein Prozent der Bibel würde Homosexualität behandeln. Statistisch gesehen wäre dies also keine Priorität für die Bibel und die wenigen Geschichten über gleichgeschlechtliche Liebe, seien oft nicht ins richtige Verhältnis gesetzt oder aus dem Zusammenhang gerissen.
Sie erzählt von einem der berühmtesten Beispiele dieser Geschichten „Sodom und Gomorrah“, welche insbesondere durch die Anti-Sodomie-Gesetze bekannt wurde. Mit Sodomie ist Sexualität gemeint, die nicht dem Zweck der Fortpflanzung in der Ehe dient, also nicht nur Homosexualität, sondern auch Analsex, Oralsex, Masturbation oder andere sexuellen Handlungen die nicht in direktem Zusammenhang mit Reproduktion stehen. Der Ausdruck leitet sich aus der Geschichte ab. Viele nutzen den Begriff, ohne ihn richtig zu verstehen.
Bei Sodom und Gomorrah geht es um zwei Reisende die am Rand der Stadt Sodom einen Rastplatz suchen. Sie haben kein Glück, sind dabei aufzugeben und die Nacht auf dem Stadtplatz zu verbringen. Doch ein Mann namens Lot hat Mitleid mit ihnen und lässt sie für diese Nacht in sein Haus. Zum Glück, denn keine fünf Minuten später hämmert der Stadtmob an seiner Tür und möchte die Männer holen beziehungsweise kennenlernen. Hier ist Kennenlernen nicht als freundliches Begrüßen gemeint, sondern sie wollen sie intim, sexuell und in diesem Fall gewaltvoll kennenlernen. Es geht um Gruppenvergewaltigung. Lot fleht sie an, nicht so böse zu handeln und bietet als Austausch seine zwei jungfräulichen Töchter, was wiederum in jeder Hinsicht verdreht ist. Die Geschichte endet als Gott über die gesamte Situation so wütend wird, dass er die Stadt für deren Sünden zerstört.
Was genau war die Sünde von Sodom? War es das Männer mit Männern schlafen? Oder war es der Mob, der forderte die Gäste von Lot zu vergewaltigen? Du merkst wie schnell wir hier Schlüsse ziehen und wie das sofort unser Urteilsvermögen beeinflusst.
Was sagt uns die Geschichte? Und was sagt sie uns nicht? Die Geschichte beschreibt, wie eine ganze Stadt sich vor einem Haus versammelt, um diese zwei Männer zu vergewaltigen. Heißt das, es geht um zwei Erwachsene die der Öffentlichkeit zeigen wollen, dass sie eine monogame Beziehung führen wollen? Wie ist das alles wirklich miteinander verbunden, wenn wir über eine ganze Stadt reden, die in einer Massenvergewaltigung diese zwei Männer misshandeln will? Wir haben Lot der diesem Vorhaben und damit einer ganzen Stadt entgegen steht. Er sieht diese zwei Menschen. Er sieht wie ungeschützt sie sind. Sie sind auf Reisen, weit weg von Zuhause, vielleicht verstoßen, vielleicht gejagt. Es sind Fremde, die sich von der Gemeinschaft abheben und nicht dazu gehören. Sie sind schwach und in vielerlei Hinsicht anfällig. Lot möchte sie beschützen. Wenn die Stadt nach ihnen fordert, fleht er die Bürger an nicht so böse zu ihnen zu sein. Wenn die Stadt nach ihnen fordert, fleht er sie an nicht so böse zu ihnen zu sein. Und wie er da der gesamten Stadt entgegensteht, dreht diese sich zu ihm und beschuldigt ihn ebenfalls nicht dazu zu gehören, da er ja noch nicht so lange hier wäre und nicht die gleichen Vorstellungen wie sie hätte. Lot ist also selbst verletzlich in dieser Situation, setzt sich dem aber trotzdem für Menschen aus die noch verletzlicher sind. Er bietet sogar noch seine Töchter an. Das lässt die Frage aufkommen warum jemand darauf besteht, dies wortwörtlich zu verstehen. Wenn die Bibel über die Sünde von Sodom spricht, handelt es sich dann wirklich um gleichgeschlechtliche Partner oder um Gewalt und den sexuellen Missbrauch von Menschen?
Etwas früher in der Bibel gibt es eine Stelle im Buch Ezekiel (16:49) „Fürwahr, das war die Schuld Sodoms, deiner Schwester: Hoffart, Überfluß an Nahrung und sorglose Ruhe ward ihr und ihren Töchtern zu teil, aber die Elenden und Bedürftigen stützte sie nicht, sondern waren stolz und taten Greuel vor mir; darum ich sie auch weggetan habe, da ich begann dareinzusehen.“
Mit Schwester ist hier eine Metapher gemeint, es handelt sich um Städte die in der Nähe voneinander liegen, also Schwesterstädte sind. Ebenso stehen die Töchter metaphorisch für die Bevölkerung, es wird hier also von den Städten und der Bevölkerung gesprochen. Es sieht so aus, als ob diese Geschichte dazu benutzt wird eine Randgruppe zur Zielscheibe zu machen, zu sagen, dass Homosexuelle oder Regenbogenmenschen gemieden oder bestraft werden sollen, obwohl es hier darum geht, dass die Menschen in unserem Umfeld, die am schwächsten sind, die uns am meisten brauchen, die verletzlichsten Menschen um uns, die Menschen sind, um die wir uns kümmern sollten. Es ist also wichtig, sich mit solch gesellschaftsprägenden Geschichten intensiv auseinanderzusetzen, um deren Kern zu verstehen. Sich zu fragen, was sagt dieser Text wirklich? Was sagt er nicht? Was meint er? Wofür steht diese Geschichte?
Eine weitere Möglichkeit wäre es, die Bibel als Ganzes zu lesen, mit ihren vielfältigen Stimmen und dann zu Fragen, wie könnte man sie regenbogenfreundlich oder queerfreundlich machen?

Es kommt mir so vor, als ob die Aussagen bzw. Überzeugungen meiner religiösen Verwandten, aus einem Normdenken oder einem Normempfinden erwachsen, welches diese Berücksichtigung nicht trägt. Platt gesagt: so hat es doch einfach zu sein und so hat es sich doch zu leben, wenn man religiös sein möchte.
Und wenn man trauert hat man doch zum Grab zu gehen. Ich war nicht bei der Beerdigung meiner Mutter und habe keine Verbindung zu ihrem Grab. Die Verbindung meiner Verwandten zu solchen Orten kann ich jedoch nachvollziehen und respektiere ihre Einstellung. Ich verstehe auch, dass sie durch ihre Prägungen ein bestimmtes Bild von Homosexualität entwickelt hat und sehe sie als ganze, komplexe Persönlichkeit, als fürsorglichen Menschen, den sehr viel mehr ausmacht als nur seine Religion. Wenn du selbst in deiner Vielseitigkeit akzeptiert werden möchtest, dann musst du auch andere in ihrer Diversität akzeptieren.
Einige Regenbogenmenschen verteufeln Religiosität, weil sie sich von ihr abgewertet fühlen und sie als Bedrohung wahrnehmen. Sie sehen nur die schlechten Eigenschaften, polarisieren mit Argumenten wie zum Beispiel dem Missbrauch vieler Kinder in katholischen Kirchgemeinden. Umgekehrt gibt es Fundamentalisten, welche alle Regenbogenmenschen verteufeln. Ich bin mir sicher, dass auch die anfangs erwähnten Aldi-Männer freundliche Seiten haben, was nicht dazu auffordert ihre Entgleisung wiederspruchslos zu dulden. Man sollte sich die Zeit nehmen, alle Blickwinkel zu betrachten. Vielleicht besteht dann sogar die Chance sich auszusprechen. Ob es nun Glaube, Kultur oder etwas anderes ist, alles ist Segen oder Fluch. Es kommt darauf an, was wir daraus machen und wie genau wir hinsehen.
Wie Skepsis zum wahren Gla