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(Un)sichtbare Wege

Aktualisiert: 18. Juli 2020

Denn das Tote, Vergangene lässt uns erst wirklich anfangen zu Leben. Erinnerungen, Protest und das authentische Leben.

Die Sonne prallt auf das bekannte Holocaust-Mahnmal zum Gedenken der ermordeten Juden Europas beim Brandenburger Tor und wirft harte Schatten. Auf den Betonsärgen hüpfen Kinder, die von einer Sicherheitsbeamtin erst nach mehreren Rufen verscheucht werden können. Um diese Gedenkstätte liegt eine Kette aus Straßen und Baustellen, die viel Krach erzeugt und zunächst gar kein wirkliches Einlassen auf diesen Ort zulässt. Die innere Stimme, das innere Empfinden wird übertönt. Ich gehe immer tiefer in die Schatten und lasse das trostlose Grau, die verwinkelten, labyrinthischen Gänge auf mich wirken bis ich ein komisches Klopfen höre und mich danach umsehe. Es ist mein eigener Herzschlag. Mein Körper hatte noch vor meinem Verstand realisiert wo ich mich befinde, womit dieser Platz zusammenhängt und was es für mich bedeutet hätte zu der Zeit des Nationalsozialismus hier gelebt zu haben oder besser gesagt, nicht gelebt zu haben. Gefangen genommen zu werden, zu leiden, als Tier behandelt, kastriert und vergast zu werden. Ich bin genderfluid, also lebe ich Mal als Mann und Mal als Frau. Ich bin pansexuell, ich verliebe mich nicht in den Körper, sondern in die Seele. Zwischen diesen Betonsärgen hätte mein Sarg liegen können. Vielleicht hätte ich mich aber auch versteckt und meine andere Identität nicht ausgelebt, so wie es viele andere zu der Zeit taten. Sicher hätte ich mich versteckt, denn ich habe dieses Privileg, diese Möglichkeit, diese Bürde.

Hinter einem Klotz taucht plötzlich ein Mädchen mit schwarzen Haaren und schwarzen Makeup auf. Ihr Goth-Style passt irgendwie zu dieser Friedhofsatmosphäre. Sie schaut traurig und neugierig durch mich hindurch, als ob sie etwas vermisst und sucht. Dann trifft sie meine Augen und lächelt. „Suchst du etwas?“, frage ich. Ihr Lächeln wird breiter. Sie hätte nur grade ihre Familie etwas aus den Augen verloren. Wir gehen aus den Labyrinth, setzen uns auf einen Sarg und warten.

„Ich finde es schrecklich was während der NS-Zeit passiert ist, wie viele Juden vernichtet wurden. Das Mahnmal lässt das Ausmaß etwas lebendig werden und erdrückt.“

Ihre Wortwahl erinnert mich an Anne Frank, über die sie tatsächlich auch ein Referat in der Schule gehalten hat. Clara (16) geht noch zur Schule und für sie ist Geschichte nicht nur Unterricht.

„Anne war in meinem Alter als sie starb. Ihr Vater erzählte später, dass er seine Tochter gar nicht wirklich gekannt hatte, denn es war ihm nie bewusst wie sie wirklich fühlt, was sie in ihren Tagebüchern schrieb. Natürlich hat die Situation damals alle mitgenommen, aber Anne hat durch ihre Sensibilität es auf besondere Weise wahrgenommen. Sie hat sich sogar die Treppe hinunterfallen lassen, wenn Bomben einschlugen, damit sie die Detonationen nicht mitbekommen muss.“

Ich denke daran wie ich die Türen immer wieder geknallt habe, wenn mein Vater mich anschrie. „Hör auf damit!“ An eine Nachricht von meinem Cousin, der mich als krank bezeichnete und die ich reflexartig löschte. An meine verstorbene Mutter die ebenso sensibel in ihren Briefen von ihren Empfindungen schrieb. Meine Vergangenheit, meine Erfahrungen geben mir einen gefühlvolleren, intensiveren Zugang zu Claras Erzählung.

Ein paar Spatzen fliegen aus einer Ecke und Claras Familie taucht auf, ihre Stiefschwester Kim (18) leuchtet mit türkisen Haaren aus den Schatten heraus und ihre Mutter Constance (54) sticht durch ihre gelbe Jacke sofort ins Auge. Ein Wunder das Clara die zwei verloren hat. Sie erzählt von den Black Lifes Matter Protesten und das es auch Gedenkplätze gibt, die nun kritisiert werden. Clara möchte nicht das die Statuen abgerissen werden.

„Man sollte sich kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen und sie nicht zerstören.“

Kim sieht das anders.

„Finde ich nicht. Viele Statuen stellen Täter dar, Kolonialisten, Sklavenhändler und Verbrecher. Aus heutiger Sicht, sollten sie nicht ausgestellt werden. Den Opfern sollte Raum gegeben werden. Vor kurzem wurde in England eine Statue gestürzt und nun steht dort die Skulptur einer POC-Aktivistin. Diese Sichtbarkeit ist total wichtig! Wenn kein Bezugspunkt da ist, kann sich die Gesellschaft keine echte Meinung bilden und struktureller Rassismus bleibt weiter nicht besprochen und verborgen. Ich habe viel über meine Privilegien als weißer Mensch gelesen und ich kann die Schwarzen sehr gut nachvollziehen. Ich bin selbst bisexuell. Weil ich selbst Ausgrenzung erfuhr, kann ich mich gut in andere Randgruppen hineinversetzen. Es greift mich dann auch mehr an, wenn ich rassistische Kommentare mitbekomme. Ich habe mich schon öfter deswegen mit meinem Freund gestritten. Es ist wichtig sich selbst zu engagieren und nicht nur daneben zu stehen. Wenn man nichts sagt, stellt man sich auf die Seite der Täter*innen. Ich unterschreibe und teile oft Petitionen oder führe auch mal ein unangenehmes Gespräch, also eins bei dem sich die weiße oder heterosexuelle Person vielleicht unwohl fühlt, weil es nun einmal erst einmal unangenehm ist, wenn einem die eigene Privilegiertheit bewusst wird. Aber die müssen da durch, sonst ändert sich da nichts.“

Da fallen mir viele Situationen in meiner Familie ein. Es fühlt sich gut an, wenn dir jemand aus der Seele spricht und du dich verstanden fühlst. Als Bi- oder Pansexueller Mensch ist das auch so eine Sache. Wenn du als Frau gelesen wirst und mit einer Frau zusammen bist, dann denken die meisten, dass du lesbisch bist oder wenn du als Mann gelesen wirst und mit einer Frau zusammen bist, denken die meisten du bist heterosexuell. Bi- und Pansexuelle gelten deswegen auch als Unisichtbare, was die sexuelle Orientierung angeht. Kims Mutter runzelt die Stirn.

„Naja es kommt aber auch darauf an, wie man etwas anspricht. Das du ein Fan von dieser All- Cops-Are-Bastards-Bewegung bist, finde ich nicht toll. Ich finde das geht gar nicht, man darf nicht pauschalisieren. Wenn ich an die Stuttgard-Randalen denke mit ihrem `Kill Cops ́... Wie die in der Nacht die Polizisten umgetreten haben. Da waren sicher auch viele Polizisten dabei, die gar nicht rassistisch sind. Ich finde, wenn jemand sagt ́Ich mag Schwarze nicht ́, dann muss ich die Meinung der Person zulassen. Das heißt nicht, dass ich selbst es genauso sehe.“

Kim schießt los.

„Das ist doch keine Meinung, dass ist einfach Arschloch-Verhalten! Zugegeben, ich sage auch nicht immer etwas. Einmal waren da mehrere Männer, die dumme Sprüche losgelassen haben, da war ich eingeschüchtert und habe den Mund gehalten.“

Constance erzählt von einer Zivilcourage- Technik, mit der man zunächst auf andere zugeht und dann gemeinsam eingreift.

Eine Gruppe gibt das nötige Fundament um gegenüber Täter*innen standhaft zu bleiben. Ich wurde in meiner Teenagerzeit einmal von zwei Männern verfolgt. Leider war da keine Gruppe und überhaupt keine anderen Menschen in der Nähe. Damals habe ich mich immer geschminkt, ich fand meinen Bart ekelig und habe jedes Härchen wegrasiert. Viele hielten mich für eine Frau, aber nicht alle. Manchmal passierte dann etwas unangenehmes. Die zwei Typen sind mir bis zur Bahn hinterher gegangen und als die Bahn kurz vor dem Losfahren war, rannte ich schnell zu dem nächsten Wagon, um nicht mit den beiden im gleichen Abteil zu sein. Die nächsten Haltestellen bin ich übrigens wieder einen Wagon weiter gegangen, denn sie haben auch das Abteil gewechselt, um mich doch noch zu bekommen. Da mochte ich nicht mehr nachts alleine Bahn fahren. Wenn ich mit meinen Freunden unterwegs war, haben wir zwar auch mal einen Spruch abbekommen, aber niemand hat sich getraut mehr zu machen. So eine Gruppe gibt eben nicht nur Sicherheit, sie kann auch andere davon abschrecken etwas Blödes zu tun. Für mich waren meine Freunde das Fundament auf dem ich meine echte Identität ausleben durfte und mich normal fühlen konnte. Dieses Fundament kann man auch als eine Atmosphäre der Sicherheit oder Safe-Space bezeichnen. Ein Gedenkort ist für mich auch so etwas. Hier können Juden Sichtbarkeit erfahren, die Atmosphäre, um über die eigene Vergangenheit und Geschichte zu sprechen ist da. Nach Hegel leben wir nur bereits gedachte Lebensentwürfe. Alles baut auf der Vergangenheit auf, die 7-Tage-Woche ist ebenso menschgemacht wie die Zeit oder unsere Perspektiven auf Hautfarbe, Sexualität, Männlichkeit oder Weiblichkeit. Wir reproduzieren was uns Eltern und Umfeld vermitteln. Also ist eine Grundvoraussetzung, um wirklich eigenständig und authentisch zu leben, die Vergangenheit und die Gegenwart in ihren Strukturen zu erkennen und sich dann gezielt auf das einzulassen was man möchte und womit man sich wohl fühlt. Constance erzählt noch von ihrer Oma Lydia. Der Name wäre während der NS-Zeit den Nazis aufgefallen, weil er jüdisch klingt. Obwohl ihre Oma nicht jüdisch war, wurde sie schlecht behandelt. Als sie einmal aus einem jüdischen Lebensmittelmarkt kam und ihr zwei Männer von der SS entgegenkamen, sagten sie ihr „Kaufst du noch einmal bei einem Drecksjuden, dann legen wir dich um.“

Wir teilen schnell in Gruppen ein und die Schublade geht fix zu. Wenn wir in einer Welt leben wollen, in der die Schublade aufbleibt, damit auch Mal was Neues rein kann, dann brauchen wir Erinnerungskultur und Sichtbarkeit für alle Gruppen. Ein Netz in dem sich verschiedenste Menschen begegnen können und Halt, Hoffnung und Mut finden. Mut sich selbst und andere zu erkennen und Mut man selbst zu sein. Dann gibt es nichts Fremdes mehr, nur ganz viel Neues, dass darauf wartet entdeckt zu werden.

Die Särge kommen mir gar nicht mehr wie Todesgruben vor. Auf ihnen wächst Moos. Vielleicht sind die Verstorbenen und die Erinnerungen ein guter Boden auf dem viel wachsen kann. Solange wir diesen Boden pflegen und die Verbundenheit zwischen Tot und echten Leben erkennen. Die Geräusche der Baustelle und Straße höre ich gar nicht mehr. Diese Reise hat mich in eine andere Welt mitgenommen und es fühlt sich nach einem Neuanfang an. Als ich wieder in Bergedorf angekommen bin, gehe ich beim Mahnmal für Bergedorfer Zwangsarbeiter vorbei und denke an die Familie. In unserem Leben ziehen sich viele Kreise. Heute zog sich meiner von Berlin nach Hamburg-Bergedorf. Der Familie hatte ich noch meine Karte mitgegeben, wir wollen im Kontakt bleiben. Das kann Erinnerung auch. Menschen zusammenführen.


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