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Vom Auflösen und Finden der Menschlichkeit

Aktualisiert: 27. Mai 2020


Ich habe einen Freund verloren. Er nahm sich 2015 das Leben. Er war sehr feminin und fiel dadurch auf. Wir hatten viel gemeinsam, nicht nur den Hang zum Femininen, zum Träumen, auch die Schauspielerei und so die Leidenschaft Emotionen auszudrücken. Jahrelang war er Mitglied meiner Improtheatergruppe, wir haben viel gelacht und sind sogar beim Stadtteilfest St. Georg aufgetreten. Wir mochten beide Psychologie, er hat das Fach sogar studiert. Ist es Ironie, dass ihm sein Fachwissen nicht half? Vielleicht kennst du diese Momente, in denen du eigentlich weißt, was du tun müsstest. Dass es falsch ist jetzt den Kopf hängenzulassen, weil davon nichts besser wird. Trotz allem verschließen sich Träume, Hoffnungen und Chancen vor dir und du versinkst im Meer deiner Tränen. Die Emotion überwältigt dich, da kannst du noch so viel Wissen… Es ist, als ob du dich in deine Bestandteile auflöst.

Ich bin so traurig und zornig, wenn ich sehe wie Menschen mit Hass begegnet wird oder wenn jemand mit Ausgrenzung, Arroganz und Gleichgültigkeit dafür bestraft wird anders zu sein. Es geht noch über den Satz „Das, was sich in allem wiederholt, ist, dass ICH als ICH nicht genüge.“ hinaus. Du genügst nicht nur nicht, du scheinst zu viel zu sein, deine reine Anwesenheit ruft schon Zorn, Ekel, Angst, Hass oder verschiedene Mischformen davon hervor. Niemand sieht und akzeptiert dich als komplexe Persönlichkeit, stattdessen werden Bruchteile herausgerissen und beurteilt. Du wirst auf eine Schublade reduziert. Es ist, als ob sie eine kurze Momentaufnahme, ein Puzzleteil deiner Identität nehmen und mit ihren Vorurteilen zu etwas anderem machen, etwas das du nie warst, nie sein wirst und auch nicht sein willst!

Es ist unglaublich wichtig, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, sich selbst zu achten und wert zu schätzen, um nicht unter Ablehnung, Anfeindung und Intoleranz begraben zu werden. Daraus entsteht die Eigenverantwortung sich für sich selbst zu definieren, um nicht in den Fantasien der anderen zermalmt zu werden. Eines ist klar: Niemand kennt dich besser als du selbst!

Ich sehe Melania Geymonat und ihre Freundin vor meinen Augen, die 2019 blutverschmiert in einem Londoner Bus sitzen, verprügelt von Männern, die sie dazu zwingen wollten, dass sie sich vor ihnen küssen. Ich lese mit Entsetzen, wie die Tagesschau im März 2019 berichtet, dass es immer mehr homophobe Attacken gibt. Grade für junge Menschen in ihrer Selbstfindungsphase ist gesellschaftliche Ablehnung besonders gefährlich.

Bei Jugendlichen ist Suizid die zweithäufigste Todesursache. Deswegen richtet sich meine Arbeit besonders an junge Menschen und Bildungsinstitutionen, an jetzt oder künftig Betroffene und Täter. Was bringt einen jungen Menschen der sein ganzes Leben noch vor sich hat, so viele Chancen noch ergreifen könnte, auf die Idee sich das Leben zu nehmen? Warum ist die Selbstmordrate grade bei Regenbogenjugendlichen so hoch? Um genauer zu sein liegt sie bei transgender 5,87 mal höher, bei bisexuellen 4,87 mal höher und bei homosexuellen Jugendlichen um 3,71 mal höher als bei heterosexuellen Jugendlichen. Es sind nicht nur Regenbogenmenschen, die Ausgrenzung wegen ihres Anders-Seins erleben. Oft wird man entweder besonders stark wahrgenommen oder ignoriert. Doch kein Mensch kann dich wirklich beurteilen. Es ist wie bei dem Fünftklässler August Pullman aus dem Roman „Wunder“ von Raquel J. Palacio (der übrigens fantastisch mit Julia Roberts verfilmt wurde). August ist entstellt zur Welt gekommen und wird in der Schule gemobbt. Als er eines Tages so heftig von seinen Mitschülern beleidigt wird, dass er einen Nervenzusammenbruch erleidet, fragt er seine Mama, ob es immer so bleiben wird. Sie weiß es nicht und sagt ihm, wie schön sie ihn findet und wie besonders er ist. August meint das würde sie ja nur sagen, weil sie seine Mama ist. Sie antwortet ihm, grade, weil sie seine Mama ist, zählt das am meisten. Sie kennt ihn am besten, sie weiß was ihn ausmacht. Auch sein Freund Jack Will weiß, dass August einen tollen Humor hat, talentiert in Naturkunde ist, man sich an sein Gesicht gewöhnt und er als Freund unersetzbar ist.

Jede*r ist auf seine Weise besonders. Du und ich haben vielleicht einiges gemeinsam, aber wir lernen diese Gemeinsamkeiten nur kennen, wenn wir uns aufeinander einlassen und öffnen. Egal ob uns Hobbys, Interessen, Herkunft, Religion, Sexualität oder Aussehen unterscheiden. Unterschiede können so spannend sein!

Wer jemanden wegen seines Anders-Seins ausgrenzt, schließt oft noch einen wichtigen Gedanken aus: Was macht es mit diesem Menschen? Und man stellt sich nicht einmal die Frage, was ist das eigentlich für ein Mensch? Denn die Menschlichkeit verschwindet hinter Spießbürgerlichkeit, Vorurteilen, Abziehbildern, die jedes Anders-Sein gleich als Störung ihres vermeintlichen Friedens verurteilen und auf oberflächliche Merkmale reduzieren. „Ach der mit Make-up?“, „Meinst du die Schwarze?“, „Der Syrer?“ alias „Der Geflüchtete?“.

Unsere wirkliche Schönheit, unser inneres Leuchten wird beständig durch negative soziale Kontrolle und einer Schamkultur der Strahlkraft beraubt. "Das gehört sich nicht für ein Mädchen.", "Jungs spielen nicht mit Puppen, tragen kein Kleid und weinen nicht.", bis hin zu Ratschlägen für "ehrbare Mädchen" wie "Leck' nicht an deinem Eis. Das sieht unanständig aus." Dein Licht verschwindet hinter Zorn, Ekel, Angst, Hass und all den verschiedene Mischformen des einander nicht Vertraut-Seins. Was ist unsere wirkliche Schönheit? Was finden wir „schön“? Was bringt uns zum Strahlen? Alle die Dinge, die uns gefallen stellen sich mit der Zeit als emotionale Verbindungen heraus, welche wir zu etwas aufgebaut haben. Dein Kuscheltier aus der Kindheit ist nicht nur toll, weil es so flauschig ist oder weil es so hübsch aussieht. Du verbindest so viele Erinnerungen damit: Vielleicht einen besonderen Geburtstag oder die Einschulung. Den großen Elefanten, denn du bekommen hast, damit du nicht so alleine bist, der coole Ranzen, mit dem du dich stark fühlen sollst. Du erinnerst dich an deine ersten Freundschaften, mit denen du so viel Spaß hattest, Abenteuern hinterher jagtest und es war dir nicht wichtig, ob sie aus dem gleichen Land gekommen sind oder welche Klamotten sie getragen haben. Was in deinem Herz bleibt und deinem Herzen gut tut, lässt deine Seele leuchten und verleiht dir wirkliche Schönheit. Der Erfinder der europäischen Idee, Richard Graf von Coudenhove-Kalergi, sagt es so:


„Ethik [also die Lehre vom guten Verhalten] ist die Lehre vom Schönen in uns, Ästhetik [also die Lehre vom äußerlich Schönen] die Lehre vom Schönen um uns.“


Unser ganzes Leben besteht aus dem Verhalten von uns selbst und dem Verhalten von anderen. Wie wollen wir sein? Wie wollen wir, dass andere zu uns sind?

Als junger Mensch hat man viele Fragen noch nicht für sich beantwortet. Was mag ich? Was macht mir Angst oder fühlt sich nicht gut an? Was möchte ich aus meinem Leben machen? Wer ist mir wichtig und für wen möchte ich wichtig sein? Was macht mich stark? Und was schwächt mich?

Hinter diesen und ähnlichen Fragen, steckt die Suche nach dem eigenen Selbst. Eine der großartigsten Erkenntnisse ist, dass du deine Identität nicht nur finden, sondern auch selbst gestalten kannst! Du darfst dir nur nicht von anderen vorschreiben lassen wie deine Identität auszusehen hat. Darfst deine Persönlichkeit, deine Träume, dein strahlendes Licht dir nicht von ihnen wegnehmen lassen, bevor du überhaupt angefangen hast zu leben. Lass uns gemeinsam etwas erleben, frei von Angst oder Vorurteilen, einander auf Augenhöhe begegnen und wirklich sehen. Erkunde mit mir in diesem Blog, wer wir sind und was wir sein könnten! Bin ich OK so wie ich bin, selbst wenn meine Familie das anders sieht? Vertragen sich Religion und Homosexualität? Was bestimmt neben Opfer und Täter mein Leben so stark, dass es die Macht hat es für immer zu verändern? Finde es bei den nächsten Beiträgen mit mir heraus!

Schreibe mir gerne eine Mail mit deinen persönlichen Erlebnissen oder deinen Gedanken. Du bist ein Wunder! We are one!


„Nur wer den Menschen liebt, wird ihn verstehen. Wer ihn verachtet, ihn nicht einmal sehen.“

Christian Morgenstern


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